Von Christian Brunner
Schließe Deine Augen, Wanderer zwischen den Welten, und nimm drei tiefe Atemzüge. Mit dem ersten, atme die Kraft des Bodens ein, auf dem Du stehst, mit dem zweiten, die unendliche Weite des Firmaments über Dir, und mit dem dritten die reinigende Kraft des Wassers überall um Dich herum.
Stell Dir vor, Du stehst am Ufer eines breiten Flusses, genau an einer Stelle, wo ein anderer in ihn mündet. Du kennst ihn, weißt, dass er viele Tagesmärsche flussabwärts zum breiten Strom wird, und dass er der Göttin Danu geweiht ist. Vor Dir befindet sich eine kleine Anhöhe; Schotter, den die Macht des Wassers über Millionen Jahre hinweg an dieser Flussbiegung aufgeschüttet hat. Du erklimmst diesen Hügel, und schaust Richtung Süden. Unter Dir erstreckt sich Wald soweit das Auge reicht, und am Horizont recken die blauen Berge ihre schneebedeckten Gipfel in den Himmel. Dorthin zieht es Dich, wo schon Deine Vorfahren seit Menschengendenken dem Gebirge das kostbare Salz entrungen haben.
Du beginnst zu laufen. Immer schneller geht es dahin, über Stock und Stein, durch dichtes Gebüsch und zwischen mächtigen Baumriesen hindurch. Du hast es kaum bemerkt, aber irgendetwas hat sich verwandelt in Dir. Trotz des mächtigen Geweihs, das schwer auf Deinem Kopf lastet, gehalten von deinen massigen Halsmuskeln, springst Du behände über jedes Hindernis und rast mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die immer höher erscheinenden Berge zu. Du bist durch und durch Hirsch.
Nach einem letzten gewaltigen Satz erreichst Du das Ufer eines Sees. Das Wasser ist glasklar und der in der Eiszeit abgeschliffene Seegrund aus Kalkgestein färbt es türkisblau. Es zieht Dich zu der massiven Felswand am anderen Ufer des Sees, die von luftiger Höhe senkrecht ins kühle Nass fällt, und ohne viel nachzudenken, springst Du ins Wasser. Kaum bist Du vollends in diesem Element, verwandelst Du Dich in eine Seeforelle. Ein paar Schläge mit dem Schwanz treiben Dich stromlinienförmig durch den See und, erfüllt mit unsäglicher Lebensfreude, springst Du ein paar Mal in die Luft, nach Insekten schnappend.
Schließlich erreichst Du den Fuß der Felswand. Noch ein letzter Sprung aus dem Wasser, und schon breitest Du dein Gefieder aus, das Dich als Falke auf den Kräften des Aufwindes bis hoch über den Fels trägt. Aufgrund Deiner sprichwörtlichen Sehkraft erspähst Du einen uralten Baum auf der höchsten Stelle der Wand, mit einem breiten Ast der geradezu dafür geschaffen ist, sich darauf niederzulassen. In dem Moment, als sich Deine scharfen Fänge in die Rinde des Baumes krallen, um dir Halt zu geben, verwandelst Du Dich zurück in Dein Menschendasein.
Da sitzt Du nun, Wanderer zwischen den Welten, an einem der ältesten keltischen Kultplätze, dem Falkenstein im österreichischen Salzkammergut, an heiligem Ort, in heiliger Zeit, und sinnierst über Dein Leben oder meditierst über einen bestimmten Gedanken.